Zehntausende haben protestiert, trotzdem hat die bayerische CSU ein neues Polizeiaufgabengesetz beschlossen. Ein Jurist erklärt, wie sich das Gesetz trotzdem noch kippen lässt – und warum er das für realistisch hält.

Die bayerische Polizei darf seit einem Jahr Menschen unbegrenzt lange einsperren – jedenfalls wenn sie und ein Richter sie für gefährlich halten. Nun darf die Polizei auch noch DNA-Analysen durchführen, um die geografische Herkunft mutmaßlicher Täter zu schätzen. Sie darf die Briefe von Bürgern durchsuchen und sie mit Kamera-Drohnen überwachen. Als Anlass reicht dazu schon eine sogenannte "drohende Gefahr". Das sind nur einige Punkte im bayerischen Polizeiaufgabengesetz (PAG), gegen das allein in München rund 30.000 Menschen demonstriert hatten.

Trotzdem hat die CSU das Gesetz mit ihrer Mehrheit im bayerischen Landtag am Dienstagabend beschlossen. Kritiker bezeichnen es als das härteste deutsche Polizeigesetz seit 1945, zahlreiche Juristen halten es für verfassungswidrig. Selbst Polizeigewerkschaften geht das PAG zu weit. Einige von ihnen wollen das Gesetz im Nachhinein vor den Verfassungsgerichten kippen. Mit einem dieser Juristen hat Motherboard gesprochen. Ulf Buermeyer von der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) hat als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe gearbeitet und ist Mitglied in der SPD.

Die GFF setzt sich auf juristischem Weg für Grund- und Freiheitsrechte ein und geht beispielsweise gegen die strategische Überwachung des BND vor. Nun planen Buermeyer und seine Mitstreiter eine Verfassungsbeschwerde gegen das bayerische PAG.

Motherboard: Das neue Polizeiaufgabengesetz (PAG) in Bayern wird als das härteste Polizeigesetz seit 1945 bezeichnet. Ist das so schlimm, wie es klingt?
Ulf Buermeyer: Ich finde die Beschreibung zutreffend. Bei vielen Maßnahmen der bayerischen Polizei muss nur noch eine "drohende Gefahr" bestehen und keine "konkrete Gefahr" mehr. Das heißt: Die Polizei entscheidet weitgehend selbst, wann sie eingreifen will.
Wirklich problematisch ist zum Beispiel, dass Drohnen – die sogenannten unbemannten Luftfahrtsysteme – zulässig sein sollen, um Gefahren abzuwehren. Sie sollen Bild- und Tonaufnahmen von Großveranstaltungen machen dürfen.

Motherboard: Als der Staatstrojaner erlaubt wurde, gab es kaum öffentliche Empörung, bei diesem Gesetz aber schon. Warum?
Ulf Buermeyer: Ich glaube, das hat mehrere Gründe. Es geht etwa nicht nur um eine punktuelle Ausweitung der Polizeibefugnisse. Es wird nicht nur ein einzelnes Werkzeug in den Werkzeugkasten der Überwachung dazugelegt, sondern die Polizei kann das gesamte Arsenal viel leichter einsetzen. Sie bekommt in der ganzen Bandbreite mehr Kompetenzen und noch ein paar neue Maßnahmen.
Hinzu kommen die spektakulären Einzelmaßnahmen, zum Beispiel dieser Einsatz von Handgranaten. Die waren zwar schon vorher zulässig, aber nur wenige sind der Meinung, dass die Polizei mit Handgranaten werfen sollte.Die aktuelle Kriminalstatistik zeigt, dass die Polizei überhaupt keine neuen Befugnisse braucht. Die Kriminalität in Deutschland ist zwischen 2016 und 2017 um fast zehn Prozent zurückgegangen. Wir leben in einem außerordentlich sicheren Land. Deshalb versteht einfach kein Mensch, warum jetzt ein weiteres Law-and-Order-Gesetz erforderlich sein soll.
Früher gab es klare Voraussetzungen, wann die Polizei handeln darf und die konnten von Verwaltungsgerichten geprüft werden. In Zukunft lässt sich das kaum mehr kontrollieren, wenn für Polizeimaßnahmen nur noch eine "drohende" Gefahr vorliegen muss.

Motherboard: Warum genau lässt sich die Polizei dann schwer kontrollieren?
Ulf Buermeyer: Die Polizei kann immer sagen, dass etwas nach einer Gefahr aussah. Das gesamte Handeln der Polizei wird dadurch von der rechtsstaatlichen Leine gelassen. Im Nachhinein lässt sich etwa kaum nachweisen, dass in einer bestimmten Situation komplett ausgeschlossen war, dass sich jemals eine Gefahr hätte entwickeln können.

Motherboard: Die CSU-Mehrheit im Bayerischen Landtag hat das Gesetz am Dienstag beschlossen. Lässt sich überhaupt noch was dagegen tun – außer warten, ob eines Tages eine neue Landesregierung das Gesetz abschafft?
Ulf Buermeyer: Wenn etwas an dem Gesetz dich selbst betrifft, kannst du generell eine Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht oder oft auch zu den Landesverfassungsgerichten einreichen. Beim bayerischen Verfassungsgerichtshof gibt es zusätzlich noch eine Besonderheit, die sogenannte Popularklage. Bei der musst du nicht einmal deutlich machen, dass du von dem Gesetz betroffen bist.
Einerseits haben die Bayern also verschiedene Möglichkeiten, dagegen vorzugehen. Andererseits kann man sich vorstellen, dass Gerichte Klagen besonders gut prüfen, wenn die Voraussetzungen niedrig sind. Entscheidungen des bayerischen Verfassungsgerichtshofes, die Freiheitsrechte stärken, sind sehr selten.

Motherboard: Könnte also praktisch jeder selbst gegen das Gesetz klagen?
Ulf Buermeyer: Eine Popularklage kann jeder Einwohner Bayerns erheben. Es ist aber nicht besonders aussichtsreich. Es gab außerdem in den letzten Jahren in Deutschland einige Massenverfassungsbeschwerden. Die haben den Eindruck erweckt, es sei wichtig, dass möglichst viele Leute klagen. Juristisch gesehen ist das meiner Meinung nach ein Irrweg, denn das Rechtsgebiet des Polizeirechts ist besonders kompliziert. Es geht nicht darum, dass möglichst viele klagen. Es geht darum, dass möglichst gut geklagt wird.
Man kann ein Verfassungsgericht nicht durch eine Art DDoS-Attacke mit Tausenden von Klägern dazu zwingen, eine bestimmte Entscheidung zu treffen. Wir als GFF wollen deshalb ein breites Bündnis zivilgesellschaftlicher Gruppen schmieden und gemeinsam eine möglichst gute Beschwerde zum Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe schicken.

Motherboard: Auch andere planen eine Beschwerde gegen das PAG. Was haben die vor?
Ulf Buermeyer: Es gibt eine ganze Reihe an Ankündigungen, wer gegen das neue Polizeigesetz klagen will. Es gibt ein paar, die vor den bayerischen Verfassungsgerichtshof ziehen wollen. Es gibt auch Parteien, die angekündigt haben, dass sie klagen wollen. Soweit ich sehe, hat aber bisher niemand sonst vor, direkt zum Bundesverfassungsgericht zu gehen.

Motherboard: Werdet ihr gegen das gesamte Gesetz vorgehen oder nur gegen einzelne Paragraphen?
Ulf Buermeyer: Ein zentraler Punkt wird die "drohende Gefahr" sein. Das ist meiner Meinung nach nicht mit früheren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vereinbar. Dabei rechnen wir uns sehr gute Chancen aus. Momentan analysieren wir noch, was wir sonst noch als verfassungswidrig einschätzen. Wir wollen auf keinen Fall mit einer Schrotflinte feuern, sondern wir schauen ganz genau hin und greifen dann gezielt diese Punkte an.

Motherboard: Ganz ehrlich, wie schätzt ihr eure Chancen ein, das Gesetz zu kippen?
Ulf Buermeyer: Ich glaube, wir haben gute Chancen zumindest Teile des Gesetzes zu kippen. Es gab in jüngerer Zeit eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum BKA-Gesetz, wo es zum Teil um ähnliche Themen ging. Überträgt man diese Entscheidung auf das PAG, dann sind einfach Teile davon verfassungswidrig. Wenn das Bundesverfassungsgericht also bei seiner Rechtsprechung bleibt, dürfte sich das PAG in vielen Punkten nicht halten lassen.

Motherboard: Wie lauten die stärksten Argumente eurer Gegner, die ihr entkräften müsst?
Ulf Buermeyer: Die CSU behauptet, das Bundesverfassungsgericht habe die "drohende Gefahr" als Grundlage von Eingriffen in Freiheitsrechte bereits zugelassen. Das stimmt auch, aber Bayern hat die engen Voraussetzungen dafür unter den Tisch fallen lassen. Das Gericht hat das auf ganz bestimmte Situationen bezogen: Nur, um drohenden Terrorismus abzuwehren und auch nur, wenn die Person konkret benannt ist, von der die Gefahr ausgeht. Aber das bayerische Gesetz hat das auf alle möglichen Probleme ausgeweitet. Und man muss nicht mehr wissen, von wem genau die Gefahr ausgehen soll. Daher lautet unser Vorwurf, dass das bayerische PAG die Polizei machen lässt, was immer sie für richtig hält.

Motherboard: Wie lange dauert es eigentlich, bis das Verfassungsgericht über so eine Beschwerde entscheidet?
Ulf Buermeyer: Das ist immer schwer zu sagen. Das bayerische Gesetz wirkt wie eine Missachtung des Bundesverfassungsgerichts, als ob der Gesetzgeber die Entscheidung zum BKA-Gesetz aus dem Jahr 2016 bewusst missverstanden hätte. Wir könnten uns daher vorstellen, dass das Gericht hier schnell Klarheit schaffen möchte. Deshalb wollen wir die Beschwerde möglichst schnell einreichen.

Motherboard: Falls ihr mit der Verfassungsbeschwerde scheitert: Lässt sich an dem Gesetz dann gar nichts mehr ändern?
Ulf Buermeyer: Das hängt davon ab, wie wir scheitern würden. Wenn das Bundesverfassungsgericht unsere Beschwerde als unzulässig ansehen sollte, beispielsweise weil unsere Beschwerdeführer angeblich nicht betroffen sind, dann wäre das Gesetz zwar nicht beseitigt, aber auch nicht von Karlsruhe bestätigt worden. Es wäre noch kein Schaden angerichtet. Dann müsste man gegen einzelne Maßnahmen klagen und das wäre mühsam. Aber den Versuch wäre es wert.
Richtig problematisch wäre es, wenn das Gericht das Gesetz bestätigen würde.Das wäre eine Katastrophe, aber dafür müsste das Bundesverfassungsgericht seine erst zwei Jahre alte Rechtsprechung über den Haufen werfen, daher halten wir das für unwahrscheinlich.

Motherboard: Könnte das Polizeigesetz nicht auch etwas Gutes haben? Wenn das Verfassungsgericht jetzt dagegen Stellung bezieht, hätte das eine Signalwirkung für die Zukunft.
Ulf Buermeyer: Wir erhoffen uns von der Entscheidung der Karlsruher Richter eine Klarstellung, die an Deutlichkeit nichts mehr zu wünschen übrig lässt. Die Entscheidung zum BKA-Gesetz ist schon sehr ausführlich und liest sich fast wie eine Art Handbuch zum Polizeirecht. Die Bayern versuchen jetzt, die letzten verbleibenden Hintertüren auszunutzen. Diese Hintertüren wollen wir mit unserer Beschwerde schließen.
Aber man muss natürlich immer damit rechnen, dass ein wildgewordener Landesgesetzgeber die Vorgaben aus Karlsruhe missachtet. Letztlich passiert das ja gerade in Bayern. Hinzu kommt, in Bayern tobt der Wahlkampf. Das heißt: Im Grunde agieren alle politischen Parteien ein bisschen weniger rational als in normalen Zeiten.

Quelle: Motherboard.vice.com